Sonntag, 4. September 2016

Ich verstehe dieses Volk immer noch nicht...

Bevor wir nach Neuseeland eingewandert sind, dachte ich immer dass ich ungefähr einen Überblick habe über die Spielarten menschlichen Wesens. Ich habe eigentlich nichts mehr Neues erwartet.
Mittelmeer, Skandinavien, Engländer, Iren, Alpenvölker, Osteuropäer, Amerikaner, Afrikaner, Asiaten.
Neuseeländer weißer Rasse sehen uns Deutschen erstaunlich ähnlich, aber das täuscht. Dass die Maori eine andere Mentalität haben, war zu erwarten. Da die Regeln des Zusammenlebens aber überwiegend von den Weißen meist englischer Abstammung bestimmt werden, schreibe ich über den Neuseeländer, den Kiwi, im Allgemeinen.
Wenn ich den Hauptzug dieses Volkscharakters in einem Wort beschreiben sollte, würde ich sagen “widersprüchlich”. Das kann natürlich daran liegen, das mir – nach 6 Jahren in Neuseeland – immer noch das Verständnis des Denkens und Handelns dieser Gesellschaft abgeht. Ich bin dem nicht einmal viel näher gekommen.
Lasst mich hier mal mit ein paar Beispielen einsteigen, um euch meine Ratlosigkeit verständlich zu machen:

  1. Der Neuseeländer ist freundlich und immer um das Wohl seines Nächsten bemüht. Da Deutsche im Allgemeinen freundlich sind wenn sie gute Laune haben, verleitet das zu der Annahme dass Neuseeländer glückliche Menschen sind.
    Tatsächlich hat Neuseeland eine der höchsten Selbstmordraten der Welt, insbesondere Jugendselbstmorde. Depressionen und andere psychische Erkrankungen sind hier keinesfalls seltener anzutreffen; mein Eindruck ist dass sie häufiger sind. Drogen spielen eine riesige Rolle, angefangen von Alkoholsucht über Cannabis, das hier salonfähig ist auch unter älteren Erwachsenen bis hin zu Psychostimulanzien und Opiaten. 

  2. Der Neuseeländer ist friedlich und ächtet Gewalt.Tatsächlich versuchen die Neuseeländer vergeblich, die Rate familiärer Gewalt, hier im Slang “Domestic” genannt, einzudämmen. Gangs blühen, allerdings meist unter Maori.
  1. Der Neuseeländer ist relaxed: stimmt einerseits. Da ist immer Zeit für ein Gespräch. Das Auto meldet man in der Poststation an – es gibt keine Zulassungsstelle (und kein Einwohnermeldeamt). Haftpflichtversicherung ist nicht verpflichtend. Es ist das Land auf der Welt mit den wenigsten Formalien, wenn man eine Firma gründen will (ich selbst bin Inhaber von zwei Firmen, und die Gründung war ein Klacks). Die Neuseeländer sind sehr kreativ wenn es darum geht jemanden zu helfen der das braucht. Andererseits kann der Neuseeländer sehr bürokratisch werden. Insbesondere wenn irgend jemand eines der beiden folgenden Themen aufbringt: Sicherheit oder Privatsphäre. Mit dem Argument der Sicherheit läßt sich hier nahezu alles durchsetzen. Dabei ist Neuseeland andererseits für Liebe zum Nervenkitzel bekannt: man denke an Bungee-Jumping und Skydiving.

  2. Der Neuseeländer ist umweltfreundlich: stimmt als grundsätzliche Einstellung, aber (noch) nicht im Verhalten. Es gibt nur teilweise Mülltrennung, wenig öffentliche Verkehrsmittel, überhaupt wenig Umweltbewußtsein in Landwirtschaft, privaten Haushalten und im Verkehr. Fahrräder sind ein Sportgerät, aber kein Verkehrsmittel. 

  3. Die Neuseeländer sind sexuell aufgeklärt und freizügig. Die Aufklärung in den Schulen ist sehr progressiv, Teenagerschwangerschaften und Abtreibungen häufig, viele Patchworkfamilien und sexuell übertragene Erkrankungen. Dennoch geht man angezogen in die Sauna und beim Baden gilt ein Bikini als sehr freizügig: oft wird ein T-shirt über dem Bikini getragen. 

  4. Die Neuseeländer sind sportlich. Stimmt teilweise. Sie sind eines Völker der Erde mit der höchsten Rate an Übergewicht. Sie lieben das Auto. Sport ist vor allem Rugby und Fischen.