Samstag, 3. Januar 2015

Gesundheit im Verständnis der Maori

Das traditionelle Gesundheitsmodell der Maori ist ein Haus der vier Komponenten der Gesundheit: Die spirituelle (Vorderseite), physische (Seitenwände), psychische (Hinterwand) und die der Familie (das Dach).

In unserem Zeitalter der Globalisierung machen wir uns oft nicht bewußt wie unterschiedlich ein Konzept von körperlicher oder seelischer Gesundheit sein kann.
Das Gesundheitsverständnis der sogenannten “Naturvölker” kann besonders unterschiedlich zusammengesetzt und hergeleitet sein, was zu manchmal unerwarteten Verständigungsschwierigkeiten führt – ganz tagtäglich im Sprechzimmer. Zu jedem Gesundheitskonzept gehören andere Grundauffassungen, Glaubenssätze und oft auch Mythen (auch unser “westliches” Gesundheitsverständnis enthält Mythen!). Da Neuseeland ein zwar eher “westliches”, aber doch multikulturelles Land ist, muss hier immer wieder an diese Unterschiede erinnert werden - was auch getan wird. Dennoch erlebe ich den Fluß der Medizinkultur immer noch recht einseitig, und zwar von “fortschrittlich” zu althergebracht, traditionell – zu Unrecht, wie ich meine.
In Anerkennung dieser Unterschiede und um sie greifbar zu machen und herauszuarbeiten, hat Dr. Mason Durie, ein neuseeländischer Arzt und Wissenschaftler, das ursprüngliche Konzept der Maori in den 1980er Jahren eine gut fassbare und heute sehr anerkannte und gebräuchliche Form gebracht.
Das “Haus der Gesundheit” - Te Whare Tapa Wha. Dessen vier tragenden Strukturen sind weiter unten beschrieben.

In unserer westlichen Tradition meinen wir mit Gesundheit erst einmal einen intakten und gut trainierten Körper. In diesem Körper kann dann ein gesunder Geist “wohnen”. Das geflügelte Wort dazu: ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, “mens sana in corpore sano”, wie schon die alten Römer sagten).
Zwar erkennt unsere Medizin auch den Einfluß der “Psyche” auf den Körper an, aber was denn Krankheit der Psyche bedeutet und woher sie kommt, ist uns weniger klar, bzw. gehen die Auffassungen darüber weit auseinander.
Wir achten auf Bewegung und gute Ernährung, oder? Und wir lieben es, Gesundheit zu messen: in Blutdruck, BMI, Cholesterinspiegel, Blutzuckerspiegel, kardiovaskulärem Risiko und Lebenserwartung. Und in diesen Belangen schneiden heutige Maori durchschnittlich leider schlechter ab als ihre weißen Gefährten – und es ist das erklärte Ziel des neuseeländischen Gesundheitsministeriums, das zu ändern und die Unterschiede soweit die möglich verschwinden zu lassen.
Im Verständnis der Maori nun besteht Gesundheit aus einem einfachen System voneinander abhängiger “Zustände” oder “Teile”, die nicht voneinander zu trennen sind: die spirituelle, die psychische, die körperliche und die “familienbezogene” Gesundheit. Dabei stellt die spirituelle Gesundheit den wichtigsten Teil, sozusagen die Grundlage, dar, oder die Perspektive, aus der Gesundheit am Ehesten betrachtet wird.

Im folgenden übersetze ich auszugsweise aus Mason Duries Buch Whaiora:

  1. Te taha wairua – die spirituelle Gesundheit:
Spiritualität ist für gewöhnlich in der westlichen Kultur nicht Teil des Gesundheitskonzeptes. Daher wird dieser Aspekt eigentlich überhaupt nicht behandelt, es sei denn er wird ausdrücklich und individuell zum Thema gemacht. Die westliche Gesellschaft hat kein eigenes übereinkömmliches Konzept einer spirituellen Gesundheit, das sie anbieten könnte. Dennoch gibt es sicherlich eine große Variationsbreite innerhalb dessen, was ein Maori unter spiritueller Gesundheit versteht – abhängig von der weiteren familiären Umgebung in der er aufgewachsen ist und seinen persönlichen Erfahrungen und Neigungen. … Die spirituelle Gesundheit wird aber unter Maori generell als die wichtigste Voraussetzung für die Gesundheit als Ganzes empfunden. Sie setzt eine Fähigkeit zum Glauben vorraus, und die Fähigkeit, die Zusammenhänge zwischen der individuellen Situation eines Menschen und seiner Umgebung zu verstehen. Ohne spirituelles Bewußtsein und “Mauri”, was soviel wie Lebensgeist oder Vitalität bedeutet, kann der Einzelne nicht wirklich den Zustand der Gesundheit erreichen und wird immer gegenüber Krankheit und Missgeschick anfällig sein.

2. Te taha hinengaro – die seelische Gesundheit (Gesundheit der Gedanken und Gefühle) :
In der westlichen Kultur wird zwischen dem gesprochenen Wort und den Gefühlen unterschieden, wobei dem gesprochenen Wort mehr Wichtigkeit zugemessen wird. Die Maori sehen das nicht so getrennt. Für sie besteht Kommunikation aus mehr als den offensichtlichen Botschaften, besonders wenn Sichtkontakt besteht. Sie lassen sich oft mehr durch die unausgesprochenen Botschaften beeindrucken: eine subtile Geste, Augenbewegungen, Gesichtsausdruck. In bestimmten Situationen können Worte als zumindest überflüssig, wenn nicht sogar abwertend, empfunden werden. (So wird verständlich, dass) Gesundheit als ein Phänomen empfunden wird, das eher in der Beziehung entsteht als dass es nur einen Zustand des Individuums selber darstellt. So wird eine schlechte Gesundheit als Ausdruck des Zusammenbruchs der harmonischen Beziehung zwischen dem Individuum und der weiteren Umgebung betrachtet.

  1. Te taha tinana – die körperliche Gesundheit
Die körperliche Gesundheit ist eine uns wesentlich vertautere Dimension der Gesundheit. Im Unterschied zur westlichen Kultur gibt es jedoch eine klarere Unterscheidung zwischen Tapu und Noa (tapu läßt sich am ehesten mit “besonders, heilig, unberührbar”, noa mit “gewöhnlich” übersetzen – Anm. des Übersetzers). Bestimmte Körperteile, und der Kopf im Besonderen, werden als tapu betrachtet, und Körperfunktionen wie Schlafen, Essen, Trinken und der Stuhlgang sind mit einer ganz eigenen Bedeutung besetzt, von eigener Wichtigkeit, die sich in der Erfordernis ganz verschiedener Rituale widerspiegelt. Zum Beispiel fungiert Essen als eine Art Ausgleicher, der Reste von Tapu oder Abstand z.B. zwischen Personen beseitigt.
Schlanke Körperformen werden nicht unbedingt als erstrebenswerter oder höher angesehen als rundliche, und Übergewicht wird nicht in dem Maße mit gesellschaftlicher Ächtung belegt. So berichten im Gesundheitswesen Tätige von Schwierigkeiten wenn es darum geht, Maori Patienten zum Abnehmen zu bewegen. Vermutlich wäre es wirkungsvoller, mehr in die Aufklärung über Gesundheitsrisiken zu investieren als persönliches Schönheitsempfinden zur Triebfeder zu machen (dies wird allerdings auch getan, muss man fairerweise sagen, Anm. des Übersetzers).

  1. Te taha whanau – die Gesundheit der Familie
Te taha whanau würdigt die Bedeutung der weiteren Familie für die Gesundheit (bzw. ihren Einfluß auf die Gesundheit des Individuums. “Whanau” geht dabei über die Kernfamilie hinaus und bezieht zumindest Familie zweiten Grades mit ein; Ergänzung des Übersetzers). Diese seine Familie ist für den Maori das primäre System in dem er aufgehoben ist und von dem er unterstützt wird. Sie bietet Fürsorge und Ernährung, nicht nur im physischen Sinne, sondern auch im Sinne von kulturellem Eingebundensein und emotionaler Unterstützung. Die in letzter Zeit zunehmenden Berichte von dysfunktionalen Familien und Mißbrauch schwächen diesen Punkt nicht ab, sondern unterstreichen im Gegenteil seine Bedeutung. Für einen Maori sind schwächelnde Gesundheit des Einzelnen ein Spiegel seiner Familie, und es liegt ihm durchaus nahe, ihr die Verantwortung für die Erkrankung oder den Tod eines Menschen zu geben, sogar dann wenn eine kausale Verbindung nicht offensichtlich ist.
“Taha whanau” hat mit Identität und Gefühl von Bestimmung zu tun. In der vielgelobten “Selbstverwirklichung” und Autarkie kann ein Maori keine Verheißung von Gesundheit zu erkennen. Von einander abhängig und aufeinander-bezogen-sein (englisch: inter-dependence) empfindet er als ein viel gesünderes Ziel, als nach Unabhängig zu streben (englisch: independence)...
Die Grundlage und durchgehendes Thema das Te Whara Tapa Wha – Modells ist Integration. Die Gesundheit des Individuums ist eingefügt, eingebaut in einen größeren Zusammenhang – die Grenze zwischen der Identität des Individuums und der der Familie verschwimmt dabei häufig. In ähnlicher Weise sind auch die Grenzen zwischen der Wirklichkeit des Augenblicks und dem Spirituellen, zwischen Gedanken und Gefühlen, dem Seelischen und dem Körperlichen, unschärfer gezogen als in der Tradition des westlichen Denkens...
Auch nach eineinhalb Jahrhunderten Kolonialisierung durch die Weissen halten die Maori nach wie vor an der Überzeugung fest dass Gesundheit nicht in simplen Zahlenwerten von Körpergewicht oder Blutdruck gemessen und erfasst werden kann.
Quelle: Mason Durie: Whaiora - Chapter Five TIROHANGA MAORI - MÄORI HEALTH PERSPECTIVES

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