“Schreib doch mal was über das
neuseeländische Gesundheitssystem” ermunterte mich Jenny Menzel,
die Lektorin von 360° Neuseeland, wissend dass das ja mein Metier
sein müsste, als in Neuseeland arbeitender Allgemeinarzt. Ich
schreibe jedoch immer lieber über meine persönlichen Eindrücke als
objektive Recherchen anzustellen.
Nun hat es sich also ergeben dass ich
selbst, durch einen Unfall, Patient geworden bin. Das ist, wie ich
meine die beste Perspektive überhaupt um ein “Gesundheitssystem”
zu beschreiben. Dabei muss ich einschränkend sagen dass es in
Neuseeland einen hervorragenden Schutz für Unfallopfer gibt, den
ACC, eine staatliche Unfallversicherung, die auch Touristen
versichert - auch ohne dass diese dafür Beiträge zahlen müssen
wohlgemerkt. Die Leistungen sind in etwa unserer
Berufsgenossenschaft-lichen Unfallversicherung vergleichbar, mit dem
Unterschied dass beim ACC auch Opfer privater Unfälle und sogar
Gewalttaten versichert sind.
Die Aussicht hier vom Fensterplatz im
7. Stock des Waikato Krankenhauses in Hamilton ist fantastisch. Mein
Blick streift über den Lake Rotoroa mit seinen seerosenbewachsenen
Ufern Richtung Osten über die Ebene die die Stadt umgibt, Hausdächer
zwischen den Bäumen; im Hintergrund zeichnet sich bläulich eine
niedrige Bergkette ab. Durch das offene Fenster höre ich
Vogelgezwitscher und Verkehrsgeräusche und ich sehe Tauben am
gegenüberliegenden Trakt auf- und abfliegen. Ab etwa sechs Uhr
abends beginnt sich der See mit Segelbooten zu füllen, die bis etwa
halb acht wieder verschwinden, wenn die Stadt in ein orangefarbenes
Abendlicht getaucht wird. Es ist Sommer in Neuseeland.
Nicht der schlechteste Ort also, um die
bekannte neuseeländische Aufmerksamkeit und Fürsorge “hautnah”
zu erfahren.
Angefangen hat alles vor gut einer
Woche auf dem geschäftigen samstäglichen Wochenmarkt in Thames. Als
wir uns gerade auf den Weg nach Hause machen wollten, wurde ich von
einem rückwärts fahrenden Wagen angefahren und zu Boden geworfen.
Ich saß auf der Straße und versuchte zu rekonstruieren was
geschehen war. Die Schmerzen kamen erst später. Fassungslos starre
ich auf meinen Knöchel, über dem ein großes Loch klafft. Der linke
Unterarm schmerzt als erstes, sah aber normal aus. Ich kann nicht
aufstehen.
Eine Frau mittleren Alters beugt sich
über mich und sagt eindringlich und freundlich Dinge wie etwa:
“Bleib ruhig, es ist alles OK. Schau da nicht hin. Willst du
liegen? Hast du Schmerzen?” Ich höre auch andere Stimmen: “Ich
hole einen Stuhl” - “ Der Krankenwagen kommt jeden Moment” -
“Was macht dein Kopf?” Auch Fragen, um mein Bewußtsein zu
prüfen. Die Art der Fürsorge beeindruckt mich sogar durch meinen
Schockzustand hindurch, und ich fühle mich nicht verloren, auch wenn
ich wie gelähmt bin. Als der Krankenwagen kam, stellen sich die
Sanitäter vor und helfen mir vorsichtig in den Wagen. Immer wieder:
Are you alright? Are you in pain?
Den Transport zum lokalen Krankenhaus
in Thames erlebe ich wie im Traum: Übergabe zum lokalen Personal
während die Trage geschoben wird. Ich höre nur Satzfetzen. Nein,
nicht in den Wartesaal, ich werde gleich dem Arzt vorgestellt, einem
Unfallchirurg aus dem Irak, wie ich im Verlauf erfahre. Er versorgt
mich routiniert. Ich fühle mich in besten Händen, was auch an der
Aufmerksamkeit der einfühlsamen Krankenschwestern liegt. Immer
wieder schauen sie nach mir und meiner Frau, die mich begleitet hat.
Immer wieder ein kleiner menschlicher Chat wie: wo seid ihr her,
macht ihr hier Urlaub, und man darf gerne zurückfragen. Muhammad der
Chirurg erzählt mir dass er das meiste seiner Erfahrung mit
Verletzungen im Irak gelernt habe, und dass man sehr flexibel müsse,
jede Verletzung sei anders. Er berichtete von Erfahrungen mit einem
deutschen Kollegen: “Der arbeitet wie eine Maschine wenn es um
Gelenkersatz geht, aber Verletzungen passen für ihn in kein Schema
und er braucht dann ewig”. Aha, denke ich, gut dass wenigstens
dieser Chirurg wohl weiss was er tut.
Man muss sagen dass die Ärzte sicher
eine der internationalsten Berufsgruppen hier sind: sie sind zu mehr
als 30% in Übersee ausgebildet, sie kommen aus dem “Nahen Osten”,
aus England, aus Südafrika, Australien, oder aus Deutschland oder
der Schweiz. Hier ausgebildete Ärzte wandern dabei zu ebenfalls
einem Drittel auf längere Zeit oder auf Dauer ins Ausland ab. Maori
schreiben sich nur wenige in das Studium ein; unter den
Medizinstudenten sind sehr viele Asiaten aus verschiedenen Ländern.
“Geh nach zwei Tagen zum Hausarzt,
dann wird sich entscheiden ob du ein Hauttransplanat brauchst oder
nicht” sagt Muhammad, nachdem er nach einer gekonnt gesetzten
Betäubung meinen Knöchel versorgt hat. “In zwei Tagen ist ein
Feiertag” entgegne ich zögernd. “Siehst du, das ist es was ich
meine!” ruft daraufhin der Iraker, “Ihr Deutschen seid immer so
übergenau! Wenn ich zwei Tage sage kann ich auch drei meinen.”
Nach einer Weile beginnen mich die
Schwestern zu fragen auf was ich noch warte: - ach so, sind Sie noch
nicht geröngt? Moment ich hake mal nach... die angekündigte
Röntgenaufnahme war in Vergessenheit geraten nachdem die
Röntgenassistentin in der Mittagspause war. Auch so kann sich also
eine entspannte (“laid back”) Lebenseinstellung äußern....
Später am Tag klingelt das Telefon
zuhause: “Hallo ich bin Rob vom Victim Support (Opferhilfe). Ich
rufe einfach an um zu fragen wie es Ihnen geht.” Nach dem Gespräch
denke ich: sollte der Verursacher nicht auch einen Anruf bekommen?
Der muss sich jetzt doch auch schrecklich fühlen...
Später (nach gut einer Woche) ruft
auch noch die Polizei an und erkundigt sich nach meinem Befinden:
“Wie geht es Ihnen inzwischen? Wir fragen weil wir noch nicht
festgelegt haben mit welchem Bußgeld wir den Mann belegen wollen.
Was denken Sie? Wenn Sie möchten, warten wir noch und rufen Sie in
ein paar Wochen nochmal an.”
Nach (echten) zwei Tagen machte mich
dann ein ungutes Gefühl unter dem Verband unruhig und ich entschied
mich für einen weiteren Besuch auf der Notfallambulanz, am Feiertag.
Dort wurde ich dem hausärztlichen
Notdienst zugeteilt: der Kollege, ein gebürtiger Kiwi diesmal,
entschied sich für einen Anruf im nächstgrößeren Krankenhaus,
Hamilton, um mich dort vorzustellen. Die Krankenschwester fand es
höchste Zeit dass ich komme und kommentierte die Leistungen des
Irakers mit zweifelndem Schweigen, was ich in zunehmender Kenntnis
der neuseeländischen Mentalität als Missbilligung interpretieren
musste. Wieder fühlte ich mich wirklich gut aufgehoben, beide
“Health Professionals” nahmen ihre Berufung offenbar sehr ernst.
Da ich offensichtlich keinen
Krankenwagen brauchte, fuhr mich meine wunderbare Frau nach Hamilton
(wenn man keine wunderbare Frau hat, gibt es auch soziale Fahrdienste
in solchen Fällen). Dort wurde ich wieder sehr schnell gesehen,
keine Wartezeit am Anfang (was mich überraschte). Man wies uns
freundlich einen Platz in einer Behandlungsbucht zu. Es war
inzwischen Abend, und der freundliche (diesmal chinesische) Chirurg
beurteilte die Wunde und klärte mich über die Perspektive auf. Das
Beste wäre ein Hauttransplantat, außer wenn der Knochen beschädigt
wäre, dann müßte man eine kompliziertere Deckung vornehmen. Er saß
bei uns und ich hatte kein Gefühl von Hast oder Eile. Meine
ängstlichen Nachfragen beruhigte er: er wisse was er tue und seine
Statistiken seien ausgezeichnet. Heute hätte er noch andere zu
operieren aber morgen käme ich bestimmt dran (es dauerte dann noch
drei Tage).
Im Laufe der nächsten zwei Stunden
wurde ich unzählige Male über meine Geschichte gefragt, ob ich
Allergien habe, woher ich (ursprünglich) sei, und nacheinander
verschiedenen Stationen zugeteilt, vom Einzelzimmer in's
Mehrbettzimmer geschoben. Immer wieder ein kleiner netter Chat.
Irgendeine Schwester trieb ein Sandwich für mich auf, und ich durfte
später sogar noch ein richtiges Nachtessen bekommen. Dann sollte ich
fasten. Über meinem Kopfende prangte ein Schild ”Nil Per Mouth”,
nichts durch den Mund, und auf der Zimmertür ein anderes “Why nil
per mouth?” mit Erklärungen, dass man sonst bei der OP sterben
könne. Ein zweites Schild über meinem Bett lautete bald “High
falls risk”, hohes Sturzrisiko. Eine Schwester hatte es angebracht
nachdem sie mich beim Toilettengang über sicheren Gang mit Krücken
belehren musste.
Mein rechter Bettnachbar war ein etwa
30jähriger gemütlicher Maori, mit dem sehr einfach auszukommen war
und der alles von der humorvollen Seite sah. Mundbodenabszeß. Ihm
gegenüber ein älterer, ehrwürdiger älterer Gentleman, der ein
englisches Flair verströmte. Hauttransplantat nach Hautkrebs (leider
sehr häufig hier). Schräg gegenüber ein standig witzelnder
Mittzwanziger, dessen Kiefer von wildfremden Streithähnen
zertrümmert worden war, die mitten in der Nacht sein Grundstück als
Austragungsort für ihre Streitigkeiten gewählt hatten.
Schließlich, nach drei Tagen, war es soweit (ich war
insgeheim froh über die Verzögerung weil ich zwischendurch wieder
essen durfte und außerdem Angst vor der Narkose hatte). Der Mann der
mich zur “Schlachtbank” schieben sollte, stand plötzlich vor
meinem Bett. Der allgegenwärtige Small-Talk half mich zu beruhigen,
als er mich durch die Gänge schob. Auch er war ein Immigrant, ich
glaube aus Israel. Nach einer halben Ewigkeit (so schien es mir)
erreichten wir einen extrem modern wirkenden Trakt, wo er mich in
einer mit Vorhängen abgetrennten Bucht abstellte. Alles schien neu
oder kürzlich renoviert zu sein, im Kontrast zu den eher altbacken
wirkenden Krankenzimmern. Nach einer Weile kam der Anaesthesist mit
zwei OP-Schwestern. Lächelnd sprach er mich auf deutsch an; es
stellte sich heraus dass er Österreicher war (seit zwei Jahren
hier). Er entschuldigte sich bei den OP-Schwestern (vermutlich eine
Philippinin und eine Pakeha Kiwi), die freundlich dazu lächelten (im
Allgemeinen sollte man in Anwesenheit von Neuseeländern die
Landessprache zu sprechen, alles andere gilt als unhöflich). Ich bin
mir natürlich auch bewusst dass viele deutsche Reisende gerade NICHT
auf deutsch angesprochen werden wollen – aber für mich hatte es in
diesem Moment etwas Tröstliches. Wieder die Fragen: “Wie ist denn
das passiert? Sind Sie gegen irgendetwas allergisch? Nein? Die
Krankenschwestern werden Sie das alles noch einmal fragen, aber das
ist hier halt so...”.
Dann: “Wenn Ihnen jetzt etwas
schwindlig wird, ist das ganz normal, das ist das Medikament.”
Ein paar Stunden später war ich zurück
in unserem Zimmer. Ich wollte eigentlich die Zeit nutzen um mich auf
einen Fortbildungskurs vorzubereiten den ich gebucht hatte. In der
Weise schien mir der Unfall ein Gewinn. Nur kam ich kaum dazu. Zwar
lief der Fernseher (auch auf meinen Wunsch hin) nur begrenzte Zeit
über den Tag, aber vor allem gab es immer irgendwelchen
Gesprächsstoff im Zimmer, ob mit den anderen Patienten oder sogar
deren Angehörigen. Es war eine freundliche, helle Grundstimmung, die
zu der herrlichen Aussicht passte – und das obwohl meine
Zimmergenossen zeitweise kaum verschiedener sein konnten. Abwechslung
brachten auch die nette, umgängliche Ergotherapeutin, und die
Physiotherapeutin mit dem extrem englischen Akzent, der sich auch
nach acht Jahren in Neuseeland noch nicht abgeschwächt hatte. Als
der junge Maori entlassen wurde, fragte mich die diensthabende
Krankenschwester ob ich nicht noch näher am Fenster liegen wolle.
Ein Krankenhaus-Paradies? Na ja, es gab auch so ein paar Sachen die
mir auf andere Weise landestypisch schienen: die Anzahl der sich
widersprechenden Empfehlungen zur Behandlung und Nachsorge (die sich
nach der Entlassung fortsetzten), jede mit Überzeugung vorgetragen,
kontrastieren hier mit den Bestrebungen am liebsten alles zu
standardisieren und egalisieren im ernsten Bemühen um die Sicherheit
des Patienten unabhängig seiner Herkunft und Rasse. Das ist, für
mich, einer der anscheinenden Widersprüche der neuseeländischen
Seele.
Die verschiedenen Ärzte die, manchmal
mehrmals am Tag, zur Visite kamen sagten mir abwechselnd ich könne
nachhause gehen und ich sollte noch mindestens fünf Tage bleiben.
Ich entschied mich für die zweite Meinung, was dann auch völlig
okay war. Es gab auch in anderen Belangen sehr unterschiedliche
Handhabungen, zum Beispiel was Medikamente, Kompressionsstrümpfe und
Pflege betraf – wiederum je nach Schicht. Auch bezüglich der
Wundpflege nach der Entlassung ist mir eine verwirrende Vielfalt von
Anweisungen aufgefallen.
Das Essen war sehr klassisch
neuseeländisch bzw. englisch. Der Maori neben mir bekam denn auch ein Extra-Essen von seiner
Frau gebracht.
Am Tag der Entlassung schliesslich
sollte ich, bis mich meine liebe Frau abholen kommen konnte, in der
sogenannten Transit Lounge warten, an deren Eingang ich formal
ausgecheckt wurde. Kaum hatte der Krankenhausangestellte mich in
meinem Rollstuhl in dem etwa mit 20 anderen Wartenden besetzten Raum
abgestellt, löste sich eine ältere Frau aus der kleinen
Kuechenzeile im Raum und sprach mich freundlich an. “Haben Sie
schon etwas zu Mittag gegessen?” Ich verneinte. “Was kann ich
Ihnen denn anbieten? Wir haben Sandwiches, Äpfel und Banane, und
möchten Sie vielleicht ein Eis mit Wackelpudding? Ich war hungrig,
da ich zuletzt gefrühstückt hatte, und ich gebe zu, ich nahm
mehreres aus der Auswahl, und einen Tee. Und jetzt kommt's: sie
brachte mir den Apfel frisch geschält in mundgerechte Stücke
geschnitten. Ich war baff.
Zum Abschluss meines Hamilton
Aufenthalts schob mich meine Frau noch durch die Hamilton Gardens (im
dort vorgehaltenen Rollstuhl), was den Tag noch richtig rund machte.
Wieder zuhause, ließ ich mich noch von
den Bezirkskrankenschwestern weiterbetreuen und anleiten, sie kamen
sogar zu mir nach Hause soweit das ging (es ist auch typisch dass ich
manchmal freundlich gefragt wurde ob ich ausnahmsweise selber kommen
könne – Flexibilität ist auch so ein Merkmal der Kiwis). Ich
bekam Termine bei der Krankengymnastik und zur Nachschau beim
plastischen Chirurgen.
ACC übernimmt außerdem den Lohnersatz
(80% des letzten Gehalts).
Eigentlich die einzige für mich
unschöne Erfahrung machte ich als ich mich auf eigene Initiative,
und nicht als Notfall, beim Emergency Department vorstellte, um eine
gerade wiederholte Röntgenaufnahme zu besprechen: der Wartesaal war
zwar leer, jedoch warnte ein Schild gleich: Wartezeit für nicht
dringende Patienten: etwa zwei Stunden. Was dann auch fast hinkam.
Nach etwa einer Stunde kam ein anderer Patient, der nach etwa zehn
Minuten hereingebeten wurde. Ich wartete weiter. Nach weiteren 40
Minuten kam Muhammad, der irakische Arzt, und bat mich herein. So
sind sie dann auch wieder, die Kiwis... man sollte die Initiative
lieber ihnen überlassen wenn es geht.
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