Samstag, 15. März 2014

Im Krankenhaus

“Schreib doch mal was über das neuseeländische Gesundheitssystem” ermunterte mich Jenny Menzel, die Lektorin von 360° Neuseeland, wissend dass das ja mein Metier sein müsste, als in Neuseeland arbeitender Allgemeinarzt. Ich schreibe jedoch immer lieber über meine persönlichen Eindrücke als objektive Recherchen anzustellen.
Nun hat es sich also ergeben dass ich selbst, durch einen Unfall, Patient geworden bin. Das ist, wie ich meine die beste Perspektive überhaupt um ein “Gesundheitssystem” zu beschreiben. Dabei muss ich einschränkend sagen dass es in Neuseeland einen hervorragenden Schutz für Unfallopfer gibt, den ACC, eine staatliche Unfallversicherung, die auch Touristen versichert - auch ohne dass diese dafür Beiträge zahlen müssen wohlgemerkt. Die Leistungen sind in etwa unserer Berufsgenossenschaft-lichen Unfallversicherung vergleichbar, mit dem Unterschied dass beim ACC auch Opfer privater Unfälle und sogar Gewalttaten versichert sind.
Die Aussicht hier vom Fensterplatz im 7. Stock des Waikato Krankenhauses in Hamilton ist fantastisch. Mein Blick streift über den Lake Rotoroa mit seinen seerosenbewachsenen Ufern Richtung Osten über die Ebene die die Stadt umgibt, Hausdächer zwischen den Bäumen; im Hintergrund zeichnet sich bläulich eine niedrige Bergkette ab. Durch das offene Fenster höre ich Vogelgezwitscher und Verkehrsgeräusche und ich sehe Tauben am gegenüberliegenden Trakt auf- und abfliegen. Ab etwa sechs Uhr abends beginnt sich der See mit Segelbooten zu füllen, die bis etwa halb acht wieder verschwinden, wenn die Stadt in ein orangefarbenes Abendlicht getaucht wird. Es ist Sommer in Neuseeland.
Nicht der schlechteste Ort also, um die bekannte neuseeländische Aufmerksamkeit und Fürsorge “hautnah” zu erfahren.
Angefangen hat alles vor gut einer Woche auf dem geschäftigen samstäglichen Wochenmarkt in Thames. Als wir uns gerade auf den Weg nach Hause machen wollten, wurde ich von einem rückwärts fahrenden Wagen angefahren und zu Boden geworfen. Ich saß auf der Straße und versuchte zu rekonstruieren was geschehen war. Die Schmerzen kamen erst später. Fassungslos starre ich auf meinen Knöchel, über dem ein großes Loch klafft. Der linke Unterarm schmerzt als erstes, sah aber normal aus. Ich kann nicht aufstehen.
Eine Frau mittleren Alters beugt sich über mich und sagt eindringlich und freundlich Dinge wie etwa: “Bleib ruhig, es ist alles OK. Schau da nicht hin. Willst du liegen? Hast du Schmerzen?” Ich höre auch andere Stimmen: “Ich hole einen Stuhl” - “ Der Krankenwagen kommt jeden Moment” - “Was macht dein Kopf?” Auch Fragen, um mein Bewußtsein zu prüfen. Die Art der Fürsorge beeindruckt mich sogar durch meinen Schockzustand hindurch, und ich fühle mich nicht verloren, auch wenn ich wie gelähmt bin. Als der Krankenwagen kam, stellen sich die Sanitäter vor und helfen mir vorsichtig in den Wagen. Immer wieder: Are you alright? Are you in pain?
Den Transport zum lokalen Krankenhaus in Thames erlebe ich wie im Traum: Übergabe zum lokalen Personal während die Trage geschoben wird. Ich höre nur Satzfetzen. Nein, nicht in den Wartesaal, ich werde gleich dem Arzt vorgestellt, einem Unfallchirurg aus dem Irak, wie ich im Verlauf erfahre. Er versorgt mich routiniert. Ich fühle mich in besten Händen, was auch an der Aufmerksamkeit der einfühlsamen Krankenschwestern liegt. Immer wieder schauen sie nach mir und meiner Frau, die mich begleitet hat. Immer wieder ein kleiner menschlicher Chat wie: wo seid ihr her, macht ihr hier Urlaub, und man darf gerne zurückfragen. Muhammad der Chirurg erzählt mir dass er das meiste seiner Erfahrung mit Verletzungen im Irak gelernt habe, und dass man sehr flexibel müsse, jede Verletzung sei anders. Er berichtete von Erfahrungen mit einem deutschen Kollegen: “Der arbeitet wie eine Maschine wenn es um Gelenkersatz geht, aber Verletzungen passen für ihn in kein Schema und er braucht dann ewig”. Aha, denke ich, gut dass wenigstens dieser Chirurg wohl weiss was er tut.
Man muss sagen dass die Ärzte sicher eine der internationalsten Berufsgruppen hier sind: sie sind zu mehr als 30% in Übersee ausgebildet, sie kommen aus dem “Nahen Osten”, aus England, aus Südafrika, Australien, oder aus Deutschland oder der Schweiz. Hier ausgebildete Ärzte wandern dabei zu ebenfalls einem Drittel auf längere Zeit oder auf Dauer ins Ausland ab. Maori schreiben sich nur wenige in das Studium ein; unter den Medizinstudenten sind sehr viele Asiaten aus verschiedenen Ländern.
“Geh nach zwei Tagen zum Hausarzt, dann wird sich entscheiden ob du ein Hauttransplanat brauchst oder nicht” sagt Muhammad, nachdem er nach einer gekonnt gesetzten Betäubung meinen Knöchel versorgt hat. “In zwei Tagen ist ein Feiertag” entgegne ich zögernd. “Siehst du, das ist es was ich meine!” ruft daraufhin der Iraker, “Ihr Deutschen seid immer so übergenau! Wenn ich zwei Tage sage kann ich auch drei meinen.”
Nach einer Weile beginnen mich die Schwestern zu fragen auf was ich noch warte: - ach so, sind Sie noch nicht geröngt? Moment ich hake mal nach... die angekündigte Röntgenaufnahme war in Vergessenheit geraten nachdem die Röntgenassistentin in der Mittagspause war. Auch so kann sich also eine entspannte (“laid back”) Lebenseinstellung äußern....
Später am Tag klingelt das Telefon zuhause: “Hallo ich bin Rob vom Victim Support (Opferhilfe). Ich rufe einfach an um zu fragen wie es Ihnen geht.” Nach dem Gespräch denke ich: sollte der Verursacher nicht auch einen Anruf bekommen? Der muss sich jetzt doch auch schrecklich fühlen...
Später (nach gut einer Woche) ruft auch noch die Polizei an und erkundigt sich nach meinem Befinden: “Wie geht es Ihnen inzwischen? Wir fragen weil wir noch nicht festgelegt haben mit welchem Bußgeld wir den Mann belegen wollen. Was denken Sie? Wenn Sie möchten, warten wir noch und rufen Sie in ein paar Wochen nochmal an.”
Nach (echten) zwei Tagen machte mich dann ein ungutes Gefühl unter dem Verband unruhig und ich entschied mich für einen weiteren Besuch auf der Notfallambulanz, am Feiertag.
Dort wurde ich dem hausärztlichen Notdienst zugeteilt: der Kollege, ein gebürtiger Kiwi diesmal, entschied sich für einen Anruf im nächstgrößeren Krankenhaus, Hamilton, um mich dort vorzustellen. Die Krankenschwester fand es höchste Zeit dass ich komme und kommentierte die Leistungen des Irakers mit zweifelndem Schweigen, was ich in zunehmender Kenntnis der neuseeländischen Mentalität als Missbilligung interpretieren musste. Wieder fühlte ich mich wirklich gut aufgehoben, beide “Health Professionals” nahmen ihre Berufung offenbar sehr ernst.
Da ich offensichtlich keinen Krankenwagen brauchte, fuhr mich meine wunderbare Frau nach Hamilton (wenn man keine wunderbare Frau hat, gibt es auch soziale Fahrdienste in solchen Fällen). Dort wurde ich wieder sehr schnell gesehen, keine Wartezeit am Anfang (was mich überraschte). Man wies uns freundlich einen Platz in einer Behandlungsbucht zu. Es war inzwischen Abend, und der freundliche (diesmal chinesische) Chirurg beurteilte die Wunde und klärte mich über die Perspektive auf. Das Beste wäre ein Hauttransplantat, außer wenn der Knochen beschädigt wäre, dann müßte man eine kompliziertere Deckung vornehmen. Er saß bei uns und ich hatte kein Gefühl von Hast oder Eile. Meine ängstlichen Nachfragen beruhigte er: er wisse was er tue und seine Statistiken seien ausgezeichnet. Heute hätte er noch andere zu operieren aber morgen käme ich bestimmt dran (es dauerte dann noch drei Tage).
Im Laufe der nächsten zwei Stunden wurde ich unzählige Male über meine Geschichte gefragt, ob ich Allergien habe, woher ich (ursprünglich) sei, und nacheinander verschiedenen Stationen zugeteilt, vom Einzelzimmer in's Mehrbettzimmer geschoben. Immer wieder ein kleiner netter Chat. Irgendeine Schwester trieb ein Sandwich für mich auf, und ich durfte später sogar noch ein richtiges Nachtessen bekommen. Dann sollte ich fasten. Über meinem Kopfende prangte ein Schild ”Nil Per Mouth”, nichts durch den Mund, und auf der Zimmertür ein anderes “Why nil per mouth?” mit Erklärungen, dass man sonst bei der OP sterben könne. Ein zweites Schild über meinem Bett lautete bald “High falls risk”, hohes Sturzrisiko. Eine Schwester hatte es angebracht nachdem sie mich beim Toilettengang über sicheren Gang mit Krücken belehren musste.
Mein rechter Bettnachbar war ein etwa 30jähriger gemütlicher Maori, mit dem sehr einfach auszukommen war und der alles von der humorvollen Seite sah. Mundbodenabszeß. Ihm gegenüber ein älterer, ehrwürdiger älterer Gentleman, der ein englisches Flair verströmte. Hauttransplantat nach Hautkrebs (leider sehr häufig hier). Schräg gegenüber ein standig witzelnder Mittzwanziger, dessen Kiefer von wildfremden Streithähnen zertrümmert worden war, die mitten in der Nacht sein Grundstück als Austragungsort für ihre Streitigkeiten gewählt hatten.
Schließlich, nach drei Tagen, war es soweit (ich war insgeheim froh über die Verzögerung weil ich zwischendurch wieder essen durfte und außerdem Angst vor der Narkose hatte). Der Mann der mich zur “Schlachtbank” schieben sollte, stand plötzlich vor meinem Bett. Der allgegenwärtige Small-Talk half mich zu beruhigen, als er mich durch die Gänge schob. Auch er war ein Immigrant, ich glaube aus Israel. Nach einer halben Ewigkeit (so schien es mir) erreichten wir einen extrem modern wirkenden Trakt, wo er mich in einer mit Vorhängen abgetrennten Bucht abstellte. Alles schien neu oder kürzlich renoviert zu sein, im Kontrast zu den eher altbacken wirkenden Krankenzimmern. Nach einer Weile kam der Anaesthesist mit zwei OP-Schwestern. Lächelnd sprach er mich auf deutsch an; es stellte sich heraus dass er Österreicher war (seit zwei Jahren hier). Er entschuldigte sich bei den OP-Schwestern (vermutlich eine Philippinin und eine Pakeha Kiwi), die freundlich dazu lächelten (im Allgemeinen sollte man in Anwesenheit von Neuseeländern die Landessprache zu sprechen, alles andere gilt als unhöflich). Ich bin mir natürlich auch bewusst dass viele deutsche Reisende gerade NICHT auf deutsch angesprochen werden wollen – aber für mich hatte es in diesem Moment etwas Tröstliches. Wieder die Fragen: “Wie ist denn das passiert? Sind Sie gegen irgendetwas allergisch? Nein? Die Krankenschwestern werden Sie das alles noch einmal fragen, aber das ist hier halt so...”.
Dann: “Wenn Ihnen jetzt etwas schwindlig wird, ist das ganz normal, das ist das Medikament.”
Ein paar Stunden später war ich zurück in unserem Zimmer. Ich wollte eigentlich die Zeit nutzen um mich auf einen Fortbildungskurs vorzubereiten den ich gebucht hatte. In der Weise schien mir der Unfall ein Gewinn. Nur kam ich kaum dazu. Zwar lief der Fernseher (auch auf meinen Wunsch hin) nur begrenzte Zeit über den Tag, aber vor allem gab es immer irgendwelchen Gesprächsstoff im Zimmer, ob mit den anderen Patienten oder sogar deren Angehörigen. Es war eine freundliche, helle Grundstimmung, die zu der herrlichen Aussicht passte – und das obwohl meine Zimmergenossen zeitweise kaum verschiedener sein konnten. Abwechslung brachten auch die nette, umgängliche Ergotherapeutin, und die Physiotherapeutin mit dem extrem englischen Akzent, der sich auch nach acht Jahren in Neuseeland noch nicht abgeschwächt hatte. Als der junge Maori entlassen wurde, fragte mich die diensthabende Krankenschwester ob ich nicht noch näher am Fenster liegen wolle. Ein Krankenhaus-Paradies? Na ja, es gab auch so ein paar Sachen die mir auf andere Weise landestypisch schienen: die Anzahl der sich widersprechenden Empfehlungen zur Behandlung und Nachsorge (die sich nach der Entlassung fortsetzten), jede mit Überzeugung vorgetragen, kontrastieren hier mit den Bestrebungen am liebsten alles zu standardisieren und egalisieren im ernsten Bemühen um die Sicherheit des Patienten unabhängig seiner Herkunft und Rasse. Das ist, für mich, einer der anscheinenden Widersprüche der neuseeländischen Seele.
Die verschiedenen Ärzte die, manchmal mehrmals am Tag, zur Visite kamen sagten mir abwechselnd ich könne nachhause gehen und ich sollte noch mindestens fünf Tage bleiben. Ich entschied mich für die zweite Meinung, was dann auch völlig okay war. Es gab auch in anderen Belangen sehr unterschiedliche Handhabungen, zum Beispiel was Medikamente, Kompressionsstrümpfe und Pflege betraf – wiederum je nach Schicht. Auch bezüglich der Wundpflege nach der Entlassung ist mir eine verwirrende Vielfalt von Anweisungen aufgefallen.
Das Essen war sehr klassisch neuseeländisch bzw. englisch. Der Maori neben mir bekam denn auch ein Extra-Essen von seiner Frau gebracht.
Am Tag der Entlassung schliesslich sollte ich, bis mich meine liebe Frau abholen kommen konnte, in der sogenannten Transit Lounge warten, an deren Eingang ich formal ausgecheckt wurde. Kaum hatte der Krankenhausangestellte mich in meinem Rollstuhl in dem etwa mit 20 anderen Wartenden besetzten Raum abgestellt, löste sich eine ältere Frau aus der kleinen Kuechenzeile im Raum und sprach mich freundlich an. “Haben Sie schon etwas zu Mittag gegessen?” Ich verneinte. “Was kann ich Ihnen denn anbieten? Wir haben Sandwiches, Äpfel und Banane, und möchten Sie vielleicht ein Eis mit Wackelpudding? Ich war hungrig, da ich zuletzt gefrühstückt hatte, und ich gebe zu, ich nahm mehreres aus der Auswahl, und einen Tee. Und jetzt kommt's: sie brachte mir den Apfel frisch geschält in mundgerechte Stücke geschnitten. Ich war baff.
Zum Abschluss meines Hamilton Aufenthalts schob mich meine Frau noch durch die Hamilton Gardens (im dort vorgehaltenen Rollstuhl), was den Tag noch richtig rund machte.
Wieder zuhause, ließ ich mich noch von den Bezirkskrankenschwestern weiterbetreuen und anleiten, sie kamen sogar zu mir nach Hause soweit das ging (es ist auch typisch dass ich manchmal freundlich gefragt wurde ob ich ausnahmsweise selber kommen könne – Flexibilität ist auch so ein Merkmal der Kiwis). Ich bekam Termine bei der Krankengymnastik und zur Nachschau beim plastischen Chirurgen.
ACC übernimmt außerdem den Lohnersatz (80% des letzten Gehalts).
Eigentlich die einzige für mich unschöne Erfahrung machte ich als ich mich auf eigene Initiative, und nicht als Notfall, beim Emergency Department vorstellte, um eine gerade wiederholte Röntgenaufnahme zu besprechen: der Wartesaal war zwar leer, jedoch warnte ein Schild gleich: Wartezeit für nicht dringende Patienten: etwa zwei Stunden. Was dann auch fast hinkam. Nach etwa einer Stunde kam ein anderer Patient, der nach etwa zehn Minuten hereingebeten wurde. Ich wartete weiter. Nach weiteren 40 Minuten kam Muhammad, der irakische Arzt, und bat mich herein. So sind sie dann auch wieder, die Kiwis... man sollte die Initiative lieber ihnen überlassen wenn es geht.

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